Dieses Jahr ist anders. In den vergangen Monaten hat es hier in Spanien mehr geregnet, als ich es je erlebt habe. Im März ist in Teilen des Landes bis zu 400 Prozent der durchschnittlichen Regenmenge niedergegangen. Starkregenwarnungen bekommen wir dieses Jahr im Wochentakt. Zuletzt am 5. Mai, am 11. Mai und in dem Moment, als ich das schreibe, kommt eine weitere Warnung für den heute Nachmittag, den 16. Mai. Das Schöne: Der Fluss im Tal fließt wieder und es tauchen Wasserfälle und Bachläufe auf, die mir bisher nicht aufgefallen sind.
Vor gut zwei Jahren, als ich schon mal einen Post mit dem Titel Die große Lüge schrieb, war das anders. Damals herrschte hier nach Jahren unterdurchschnittlichen Regenfalls Wassernotstand. Die Speicherseen waren bereits Anfang des Jahres – also am Ende der normalerweise regenreichen Wintermonate – auf zehn Prozent gefallen. Damals herrschte auch Dürre in Deutschland. Das ist dieses Jahr nicht anders – im Gegenteil, dieses Frühjahr droht das trockensten seit mindestens 1881, dem Beginn der Aufzeichnung zu werden.
Vor zwei Jahren schrieb ich über die Taktik der Politik, diese Realität zu ignorieren: “Dahinter steht eine der größten Lügen unserer Zeit: Alles geht weiter wie bisher. Unser Wohlstand mehrt sich, unser Konsum steigt weiter und das Klima retten wir nebenher mit Technologieoffenheit und Forschung, aber ohne uns in irgendeiner Form einzuschränken. Dabei werden wir schon jetzt von der Realität eingeholt.” Seit damals hat sich nicht nur die Klimakrise verschärft, sondern auch die Realitätsverweigerung.
2024 war das Heißeste je gemessen Jahr, im Jahr 2025 scheint sich der Trend fortzusetzen. Die 1,5-Grad-Grenze, auf die sich die Staatengemeinschaft 2015 geeinigt hat, bezieht sich zwar auf einen langfristigen Temperaturanstieg, aber in den vergangen Monaten lagen die Temperaturen regelmäßig darüber – im Januar sogar bei 1,75 Grad. Wir haben ein Problem. Nicht in der Zukunft, sondern jetzt.
In Deutschland und angrenzenden Regionen drohen Fehlernten und die Preise vieler Nahrungsmittel schnellen in die Höhe. Laut der Beratungsgesellschaft für Lieferketten Inverto ist der Preis von Rapsöl von 2024 auf 2025 um 17,6 Prozent, der von Sonnenblumenöl um 55,8 Prozent und der von Kakao um 163,4 Prozent gestiegen. Seit 2020 hat sich der Preis von Kaffee vervierfacht. Dass sich dieser Trend umkehrt, ist unwahrscheinlich und zwangsweise wird das an einem Punkt nicht nur zu höheren Preisen führen, sondern zu Knappheit.
“Wir gehen jetzt unideologisch an dieses Thema”, sagt der neue Kanzler Friedrich Merz bei Maybrit Illner. “Diese Ampel hat, insbesondere durch die Grünen, dieses Thema [Klimaschutz] so überhöht und so übermoralisiert, dass mittlerweile die Menschen sich mehrheitlich von diesem Thema abgewandt haben.” Tatsächlich hat Merz in letztem Punkt Recht, obwohl die Klimakrise eskaliert, scheint das Thema Klimaschutz in der Öffentlichkeit eine immer geringere Rolle zu spielen. Laut einer Umfrage des Instituts der Deutschen Wirtschaft stimmten 2021 76 Prozent zu, dass sie ihren Konsum für Klimaschutz einschränken würden; 2024 waren es nur noch 68 Prozent. 2021 hielten 77 Prozent Klimaschutz für notwendig, um Wohlstand zu erhalten; 2024 waren es 62 Prozent.
Einer von vielen Gründen dafür ist vermutlich, dass Klimaschutz im Abstrakten zwar erstrebenswert erscheint, aber sobald es den eigenen Lebenswandel negativ betrifft, deutlich an Priorität verliert. Und das scheint hängengeblieben zu sein: Klimaschutz macht mein Leben teurer. Aber lag die Abkehr vom Klimaschutz an den Grünen?
Schauen wir uns doch mal den Strompreis an. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, bis 2019 Lobbyistin für Unternehmen der Energie- und Wasserversorgung, sagt, man habe Klimaschutz bisher “überbetont” und kündigt eine “pragmatische Energiepolitik” an. Das impliziert, dass wir in Deutschland ein Problem mit hohen Energiepreisen haben, oder? Und, das vermute ich nach Gesprächen mit der Familie, ist auch das allgemeine Gefühl in der Bevölkerung. Nun, es ist Quatsch.
Der aktuelle Strompreis für Neukunden und der für die Industrie sind beinah exakt so hoch wie 2021. Gleichzeitig hat der Energiesektor mit Abstand am meisten zum Erreichen der nationalen Klimaziele beigetragen. Das ist angesichts der Tatsache, dass Russland in dieser Zeit seinen Angriffskrieg auf die Ukraine auf das gesamte Land ausgeweitet hat, ein erstaunlicher Erfolg der Ampel. Unideologisch oder pragmatisch könnte man das nennen.
Merz will nun neue Technologien entwickeln, die das Problem lösen sollen. “Wir gehen an dieses Thema anders heran. Wir gehen vor allem nicht mit dem erhobenem Zeigefinger durchs Land und erklären den Leuten, wie sie heizen müssen, wie sie Autofahren müssen und wie sie essen dürfen, sondern wir sagen, wir wollen versuchen, das mit Technologieoffenheit zu begleiten”, sagt er bei Maybrit Illner.
Mir ist keine neue Technologie bekannt, die kurz vor dem Durchbruch steht und einen signifikanten Beitrag zum Klimaschutz leisten könnte. Merz nennt zum Beispiel carbon capture and storage (CCS), also das Auffangen von CO2 und die anschließende Verklappung. Klingt gut? Dann könnte man Gaskraftwerke klimaneutral weiter laufen lassen? Nun, auch das ist Quatsch.
CCS ist eine Technologie, die die Öl- und Gasindustrie entwickelt hat, um Förderfelder weiter am Leben zu halten, indem sie CO2 in Felder injizieren und so den Druck erhöhen. Es gibt nur ein Projekt weltweit, das unabhängig von der fossilen Industrie ist: Orca auf Island. Das speichert jährlich 4,000 Tonnen C02 – etwa so viel wie der Privatjet von Taylor Swift ausstößt.
Die Abspaltung erfordert große Mengen an Energie. Kraftwerke mit CCS brauchen bis zu 40 Prozent mehr Brennstoff. Bestehende Kraftwerke mit CCS fangen nur zwischen 10 und 65 Prozent des produzierten CO2s ein. Sie sind also nicht klimaneutral. Als Zielmarke gelten 95 Prozent. Selbst dann kann man nicht von Klimaneutralität sprechen – vor allem, wenn man den erhöhten Brennstoffbedarf einrechnet.
Dann sagt Merz: “Das geht hin bis zum Thema Verbrenner, darüber gibt es in Europa ein völlig andere Diskussion als sie noch vor Jahr und Tag geführt worden ist.” Darüber mag es eine andere Diskussion geben, aber an der physikalischen Realität hat sich nichts geändert: Verbrenner können in der Masse nicht klimaneutral sein. E-Fuels bleiben katastrophal ineffizient. Bei der Produktion und bei der Verbrennung gehen große Mengen Energie verloren. Im Idealfall kommt 20 Prozent der Energie, die man reinsteckt, auf der Straße an. Und dann kommen die Produktionskapazitäten, die E-Fuels im Individualverkehr endgültig ins Reich der Fantasie verbannen: Sollten bis 2030 global alle geplanten Produktionskapazitäten ausgebaut werden, würden sie drei Prozent des deutschen Bedarfs für die Luft- und Schifffahrt decken können. Sollten, wohlgemerkt. Was diese neue Diskussion um den Verbrenner sein soll, ist mir schleierhaft.
Und während Alibitechnologien mit zweifelhaftem Nutzen versprochen werden, verbreitet die neue Regierung Unwahrheiten über bestehende Technologien, die tatsächlich und schon heute funktionieren. Das gilt für die Elektrifizierung des Individualverkehrs als auch für den des Gebäudesektors: „Es muss Schluss sein mit dem Zwang zur Wärmepumpe,” sagt Reiche. Den hat es nie gegeben. Das Heizungsgesetz war immer technologieoffen. Einen Zwang, die Gastherme rauszureißen gab es auch nie. Es gibt nur momentan keine klimaneutralere Heiztechnik.
Mit der Liste an Politikeraussagen, die unrealistische Lösungen in Aussicht stellen, ließe sich ein ganzes Buch füllen. Hinter all diesen Scheinlösungen und Scheinproblemen steht die populistische Versprechung, dass alles weiter gehen kann, wie bisher: Wir können weiter mit Gas heizen und Energie produzieren, weiter Verbrenner fahren, weiter konsumieren wie bisher und irgendwie bekommen wir das gelöst. Alles andere ist grüne Ideologie. Diese große Lüge verfängt scheinbar. Parteien, die sie propagieren gewinnen bei Wahlen, und der Wille Einschränkungen für den Klimaschutz zu akzeptieren schwindet.
Aber die Realität holt uns irgendwann ein. Das musste auch die neue Regierung feststellen. Entgegen gegenteiliger Versprechen wird sie massiv neue Schulden aufnehmen. Entgegen gegenteiliger Versprechen wird sie nicht dauerhaft die deutschen Außengrenzen abriegeln können. Und entgegen gegenteiliger Versprechen kann man das Klima nicht schützen, wenn man Physik ignoriert.